Ich bin mit der Überzeugung aufgewachsen, dass Gewalt grundsätzlich vermeidbar ist. Wo sie auftritt, so mein Gedanke, ist sie ein Ausdruck anderweitig ungelöster Konflikte. Das prägt auch mein Verhältnis zur Bundeswehr. Doch seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine bin ich im Zwiespalt mit mir selbst.
Lange Zeit habe ich die Bundeswehr als so etwas wie ein überteuertes THW betrachtet. 45 Milliarden Euro Budget im Jahr 2020, um alle paar Jahre Sandsäcke an der Oder aufzustapeln? Das kam mir verrückt vor – und überflüssig. Im Wesentlichen habe ich die Bürger in Uniform als Ganzjahreskarnevalisten betrachtet, ernst nehmen konnte ich sie nie. Als funktionierende Streitkräfte betrachten konnte ich sie erst recht nicht. Was ihr zu Letzterem fehlt sind Gewehre, die schießen, Panzer, die fahren und Marinehubschrauber, die übers Wasser fliegen können. Was ihr zu Ersterem fehlte, war aus meiner Sicht ein Auftrag von unserer Gesellschaft, der diese immensen Kosten rechtfertigen würde. Auch im Saarland betreibt die Bundeswehr fünf Standorte mit rund 1500 Soldat:innen und 500 zivilen Beschäftigten. Zuletzt waren die aber vor allem mit der Unterstützung der Gesundheitsämter bei der pandemiebedingten Kontaktnachverfolgung und dem Aufbau eines Impfzentrums beschäftigt. Tätigkeiten also, die nicht unbedingt zum Kerngeschäft der Bundeswehr gehören.
An Einsatzmöglichkeiten mangelte es bisher. Was hingegen in rauen Mengen vorhanden ist, das sind Skandale. Und die reichen von vergleichsweise harmlosen Dingen wie entwürdigenden Aufnahmeritualen in einzelnen Kasernen bis hin zu handfesten Problemen, wie rechtsradikalen Strukturen innerhalb gewisser Teile der Bundeswehr. Nicht zu vergessen die zahlreichen Munitions- und Sprengstoffdiebstähle und das Auftauchen eben dieser Bestände bei bekennenden Neonazis, die einen Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung mit Gewalt durchsetzen wollen.
Zu allem Überfluss wurde die Bundeswehr in den vergangenen Jahren von Minister:innen geleitet, die eher durch dubiose Beraterverträge, schlechte Karnevalswitze (sic!) und gelöschte Handyspeicherkarten von sich reden gemacht haben, als durch Reformen und verantwortungsvolle Materialbeschaffung. Wie gesagt: 45 Milliarden an Steuergeldern 2020, Tendenz steigend. Bei dem Gedanken an all die inklusiven Projekte, die man damit bezahlen könnte, all die Sozialarbeiter, die man auf die Straße schicken könnte, all die Umweltschutzmaßnahmen, die davon finanzierbar wären, vergießt meine linke Seele ein kleines Tränchen.
Zu jung für Krieg?
Ganz abgesehen davon konnte ich als überzeugter Wehrdienstverweigerer nie nachvollziehen, wie man sich als Soldat freiwillig in eine staatliche Struktur eingliedern kann, deren Aufgabe zumindest in Teilen darin besteht, andere Menschen zu verletzen oder zu töten. Wobei man mich an dieser Stelle nicht missverstehen möge: Trotz meiner linken Gesinnung habe ich mich selbst nie als Pazifisten gesehen. Dieses Konzept erschien mir immer fragwürdig, wie ein Luxus, den man sich in unserem seit drei Generationen befriedeten Westen nun mal leisten kann. Dass darin eine Ambivalenz steckt, ist mir klar. Gewalt war für mich nie ein Teil des Lebens, von unbedeutenden Keilereien in der Grundschule und testosteronschwangeren trunkenen Kabbeleien mal abgesehen. Letztere blieben am Ende zwar immer harmlos, dennoch peinlich-gelegentlicher Teil meiner Lebensrealität. Im Nachhinein habe ich mich ihrer stets geschämt, weil ich einem Konflikt körperlich statt verbal begegnen wollte. Wohl deshalb, weil ich wusste, dass ich Aggressionen an anderen Stellen in meinem Leben aufgebaut, aber kein passendes Ventil für sie gefunden hatte.
Wir haben den Krieg outgesourced. Realität war er für mich deshalb nie, eher ein theoretisches Konzept. Etwas Denkbares, nie etwas, das nachzuempfinden ich im Stande gewesen wäre. Krieg fand im Fernsehen statt, später im Internet, in Zeitungen und Online-Publikationen. Die Generation meiner Eltern mag sich noch an die atomare Bedrohung des Kalten Krieges erinnern. Ich erinnere mich lediglich daran, dass ich im Alter von sieben Jahren länger aufbleiben durfte, weil ein lockiger Mann in Lederjacke den Schlager „I`ve been looking for freedom“ auf einer mit Grafitti beschmierten Mauer gesungen hat. Danach gabs Feuerwerk.
Angst vorm Krieg!
Dabei ist der russische Krieg in der Ukraine gar nicht – wie derzeit häufig zu hören ist – der erste bewaffnete Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Er ist noch nicht mal der erste, den ich selbst, Jahrgang 1983, miterleben muss. Es ging schon im Jahrzehnt vor meiner Geburt los. Seit 1974 gab es neun Kriege in Europa: Zypern, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Tschetschenien, Kosovo, Mazedonien, Georgien und Ostukraine. Doch der Überfall russischer Truppen auf ein europäisches, souveränes Nachbarland fühlt sich für mich, den wohlstands- und friedensverwöhnten Enddreißiger aus dem Herzen Europas, realer an als alle bisherigen Konflikte. Woran das liegt, kann ich nur mutmaßen. Vielleicht beschäftige ich mich aufgrund meines Berufs jetzt mehr mit den politischen Geschehnissen in der Welt, vielleicht liegt es an der Omnipräsenz der Berichterstattung, auch in den sozialen Medien. Vielleicht habe ich früher aus Schutz für mein seelisches Wohlbefinden lieber weggeschaut. Denn Krieg und Gewalt machen Angst. Fakt ist: Dieses mir so ferne Konzept der gewalttätigen politischen Auseinandersetzung rückt gerade in den Fokus der weltweiten Aufmerksamkeit – und somit auch in den Fokus der meinigen. Keine 1500 Kilometer von meinem Schreibtisch entfernt fallen Bomben auf Menschen, ein Diktator droht erneut mit der nuklearen Keule, EU-Staaten machen mobil.
Hier im Saarland kommen bisher weitestgehend kleinere Ausläufer der Katastrophe an. Und zwar in Form von fragwürdigen Preiserhöhungen an der Zapfsäule und eingeschränkter Verfügbarkeit von Sonnenblumenöl. Real hingegen ist der Zustrom der vielen tausend Menschen, die vor Krieg und Terror flüchten müssen, auch wenn bisher nur ein Bruchteil davon den Weg ins Saarland gefunden hat. Diese Menschen mussten erleben, was Krieg wirklich bedeutet. Noch immer kann ich deren Erfahrungen nicht nachempfinden, ich hoffe selbstverständlich, dass mir das erspart bleibt. Doch ich beginne zu ahnen, was sie bedeuten könnten.
Augenmaß statt Militarismus
Und so wandelt sich angesichts dieser Ereignisse auch mein Bild des Soldaten und der Armee. Habe ich mich all die Jahre geirrt? Ich glaube schon. Zumindest hinsichtlich meiner Auffassung, es gäbe keine Aufgaben mehr für die Bundeswehr. Offenbar und leider gibt es sie. Laut Bundesverteidigungsministerium bestehen diese Aufgaben im Schutz der Souveränität des deutschen Staatsgebiets, im Schutz der Bürger und – aktuell besonders wichtig – im Schutz von Deutschlands Verbündeten. Zum ersten Mal in meinem Leben beginne ich zu begreifen, was das eigentlich heißen soll. Ich beginne zu begreifen, dass meine ablehnende Haltung gegenüber der Bundeswehr von einer gewissen Egozentrik motiviert war. Schließlich waren ich selbst, meine Freunde und Familie, nie von einem Krieg betroffen, sieht man einmal von der Generation meiner Großeltern ab, die den Zweiten Weltkrieg als Jugendliche durchlebten. Es war so leicht zu fordern, die Waffen wegzustecken, wenn man selbst nie welche gebraucht hat. Hätte man mich vor wenigen Wochen gefragt, wie wir unsere Krankenhäuser künftig finanziell und personell besser aufstellen können, ich hätte ohne zu zögern den Rotstift bei der Bundeswehr angesetzt. Hätte man gefragt, wie man den Unterricht in deutschen Schulen verbessern kann, ich hätte vermutlich weiteres Einsparungspotential bei der Truppe gesehen. Doch angesichts der Situation in der Ukraine erscheint mir das idealistisch, geradezu naiv. Laut einer aktuellen Umfrage von ARD-Deutschlandtrend gilt das auch für viele andere Menschen. Demzufolge geben 47 Prozent der Bürger an, höhere Verteidigungsausgaben mittragen zu wollen, 67 Prozent befürworten eine Verlegung von Nato-Truppen an die sogenannte Ostflanke. Zum Vergleich: Nach Putins Annexion der Krim-Halbinsel 2014 lag dieser Zustimmungswert bei lediglich 21 Prozent. Ist das nun die Zeitenwende von der Bundeskanzler Olaf Scholz vor wenigen Tagen gesprochen hat? Eine Zeitenwende auch für mein eigenes Gewissen?
An meiner grundsätzlichen Überzeugung, Konflikte mit Worten statt Waffen zu lösen, hat sich nichts geändert. Nach wie vor wünsche ich mir, dass Politiker die besagten 45 Milliarden Euro in Dinge investieren können, die die Menschheit voranbringen, statt dass wir uns gegenseitig in die Steinzeit zurückbomben. Denn die Gesundheitskrise ist in Deutschland ebenso real wie die konsequente Unterfinanzierung der Schulen und Universitäten. Auch wenn es gerade jetzt opportun erscheint, zusätzliches Geld in Rüstung zu investieren, darf Russlands Einmarsch in der Ukraine nicht zu einem neuerlichen Militarismus in der Welt führen, schon gar nicht zu einem weiteren Kalten Krieg.
Das Richtige im Falschen tun
Es mag gerade richtig erscheinen, die Bundeswehr zu sanieren, trotzdem ist das von Bundeskanzler Scholz angekündigte Sondervermögen mit Vorsicht zu genießen. Ja, es müssen Reformen her und ja, die Bundeswehr kann jetzt ihren Beitrag dazu leisten, den Frieden in Europa zu sichern. Ob es jedoch klug ist, den überbürokratisierten Strukturen des Beschaffungswesens zusätzlich zum Verteidigungshaushalt weitere 100 Milliarden an den Kopf zu werfen und darauf zu hoffen, dass damit dieses Mal schon das Richtige passieren wird, ist in höchstem Maße fragwürdig. Wenn es sich also nicht umgehen lässt, in Kriegsgerät zu investieren, wenn es sich nicht verhindern lässt, durch Diplomatie und Außenhandel bewaffnete Konflikte zu vermeiden, dann müssen wenigstens die folgenden organisatorischen Dinge sichergestellt sein: Die Bundeswehr muss erstens professionell geführt werden, damit sich Skandale wie die Erniedrigung von Rekruten und die unzähligen Munitionsdiebstähle künftig nicht wiederholen können. Außerdem müssen, zweitens, rechte Organisationsstrukturen konsequent unterbunden werden. Schließlich muss drittens die Materialbeschaffung neu organisiert und entlang klar definierter Aufgaben der Bundeswehr getätigt werden.
Und die Soldaten? Deren Beruf werde ich persönlich nie in seiner Gänze akzeptieren können. Ausgestattet mit staatlichem Schießbefehl das Leben anderer Menschen zu beenden, das erscheint mir für mich selbst undenkbar. Mein Gewissen bestätigt mir noch heute, dass es richtig war, den Wehrdienst zu verweigern und Essen an Bedürftige auszufahren, statt mit einer Waffe im Matsch herumzukriechen. Doch ich will versuchen mich in das Notwendige zu fügen und akzeptieren, dass Frieden manchmal nur mit bewaffneten Soldaten hergestellt oder erhalten werden kann. Ich will versuchen, bei aller angenommenen weltanschaulichen Differenz zwischen mir und einem Berufssoldaten, Dankbarkeit dafür zu entwickeln, dass es ihn gibt. Die Mehrzahl der Ukrainer:innen dürfte gegenüber denjenigen, die die russischen Invasoren abwehren, gerade so empfinden. Welches Recht hätte ein wohlstands- und friedensverwöhnter Enddreißiger aus dem Herzen Europas, diesen Menschen zu widersprechen?
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